Berichte eines Home-Officers – Tag 11

Vor lauter digitaler Präsenz und Misstrauen im öffentlichen Raum, schwelgt unser Home-Officer an Tag 11 in Erinnerungen an die U-Bahn in Tokio. Der Architekt Roman Leonhartsberger schreibt in seiner täglichen Kolumne auf New Monday über die besonderen Herausforderungen in Home-Office-Zeiten. Denn auch er sitzt, wie Tausende von ArchitektInnen, LandschaftsarchitektInnen, StadtplanerInnen an seinem Ess- äh Schreibtisch.
Veröffentlicht am 03.04.2020

Tag 12 - Home Office als soziale Krise

Auf die Krise reagieren wir mit verstärkter digitaler Präsenz und erhöhtem Misstrauen im öffentlichen Raum. Die Spaziergänger auf der Straße machen einen Bogen umeinander. Einem selbst ist bewusst, dass allen anderen auch bewusst ist, dass ein Spaziergang an der frischen Luft systemisch ebenso Teil von Home Office und Kontaktverbot ist. Die Unschuld und Beiläufigkeit bei der Nutzung öffentlicher Räume ist dahin. Eine führende überregionale Wochenzeitung nennt das Nebeneinander von physischer Nähe und sozialer Distanz als ein Grundprinzip des Lebens in der Großstadt. Die Fähigkeit, Menschen in der vollen U-Bahn zu ignorieren, obwohl man sie berührt oder ihnen auf die Nase guckt, wird hier früh erworben. In den vollen Nahverkehrszügen Japans war dieser Effekt besonders eindrucksvoll zu beobachten, da beinahe alle gleichermaßen gut angezogen sind, ob Nachtwächter oder Aufsichtsrat. Hoffentlich wird es wieder so. Homeoffice kehrt dieses Prinzip ins Gegenteil um: Die erzwungene physische Trennung macht scheinbar alle gleich. Und sie macht unsichtbar: Nicht nur, dass man seine Kollegen nicht mehr zu Gesicht bekommt. Es betrifft auch die anderen, mit denen wir in der Stadt zusammenarbeiten, ohne es zu wissen. Viele Berufsgruppen bei denen Homeoffice undenkbar ist und die neuerdings als „systemrelevant“ gepriesen werden (obwohl sich dadurch an den miesen Arbeitsbedingungen und der dürftigen Bezahlung nichts ändert), nehmen wir nun noch weniger war. Schlichtweg weil wir nicht mehr aus dem Haus gehen. Aber auch am Schreibtisch zu Hause: Manch einer mag das Abhängigkeitsverhältnis von seinen ungeliebten Vorgesetzten nun noch deutlicher spüren, während er seinen privaten Laptop abstaubt und fit macht für die Indienststellung. Andere lassen sich vielleicht von der scheinbaren Geborgenheit und Bequemlichkeit des Homeoffice einlullen, die dieselben beruflichen Privilegien bietet wie die leidige Büroumgebung. Der soziale Kurzschluss in der Teeküche und am Besprechungstisch fehlt, alles ersetzt der Computer als Gegenüber: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Wichtigste in der ganzen Wohnküche? Ich schaue mir meine heimlich geschossenen Fotos aus der Tokioter U-Bahn an und plane ein hemmungsloses Gelage für die Bürowiedereröffnung.

 

Über den Autor:

Roman Leonhartsberger ist Architekt, Stadtplaner, Lehrbeauftragter für Städtebau an der Hochschule München und seit neustem Home-Officer.

Illustration: Juri Agostinelli

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